Ist Klimaneutralität genug?

Der morgendliche Blick in die Nachrichten verdeutlicht es einmal mehr: Trotz klarer Erkenntnisse über die Notwendigkeit, den Klimawandel aufzuhalten und die Biodiversität zu bewahren, scheitern Konferenzen, und tausende Delegierte reisen ohne nennenswertes Ergebnis ab. Zuletzt in dieser Woche geschehen bei der Weltnaturkonferenz (COP16) in Kolumbien, bei der viele Teilnehmer ihre Verantwortung durch Schuldzuweisungen an andere Länder abgeben. Ein häufiger Vorwurf ist, dass andere – besonders China – mehr tun sollten, da sie heute zu den größten Emittenten gehören. Doch selten wird erwähnt, dass der Westen, insbesondere Europa und die USA, zu den Hauptverursachern gehören, die den heutigen Zustand hervorgebracht haben. 1) Nicht nur haben diese Länder bis dato die Größten Gesamtemissionen verursacht, sie sind auch heute noch die größten „Pro-Kopf-Verursacher“ in Sachen CO2 Ausstoß. 2)

Zudem stellt sich die Frage: Reicht Klimaneutralität aus, um diese historisch verursachten Probleme zu lösen und zukünftige Generationen zu schützen? Die Antwort ist eindeutig: Nein. Klimaneutralität allein wird die kumulierten Schäden und die laufende Belastung des Planeten nicht aufhalten können.
Die Atmosphäre lässt sich am besten als überlaufende Badewanne verstehen, wie Dr. John Sterman vom MIT es schon im Jahr 2008 formuliert hat: Wir schütten etwa doppelt so viel CO₂ in diese "Badewanne", als der natürliche Abfluss des Planeten ablassen kann. 3) Solange wir diese Rate nicht drastisch reduzieren, wird der Klimawandel weiter eskalieren.

Bildquelle: Mag. Karin Huber-Heim, Grundlagen der Nachhaltigkeits- und Stakeholder- Kommunikation 2024

Ein neues Wirtschaftssystem ist notwendig

Ein fundamentaler Wandel in der Wirtschaft ist unausweichlich. Anstatt weiterhin auf Wachstum um jeden Preis zu setzen, müssen wir uns in Richtung einer regenerativen Wirtschaft bewegen, die auf Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschonung basiert. Eine einfache Kompensation der Emissionen, wie sie heute oft als Lösung präsentiert wird, greift dabei zu kurz. Oft handelt es sich hierbei um reine Marketingstrategien, die den Eindruck vermitteln, ein Unternehmen sei klimafreundlich, während die tatsächliche Klimabilanz meist viel schlechter aussieht.

Hier sollte die im März 2024 vom EU-Parlament verabschiedete „Green Claim Direktive“ ein Schritt in die richtige Richtung sein. Diese Initiative zielt darauf ab, VerbraucherInnen vor Greenwashing zu schützen und soll helfen, den „Dschungel der Gütesiegel“ zu lichten. Die KonsumentInnen sollen vor irreführenden Klimaschutzversprechen bewahrt werden.

Nehmen wir ein Beispiel: Die Austrian Airlines hat im Jahr 2022 damit geworben, seine KundInnen klimaneutral zur Biennale nach Venedig zu fliegen – ein Claim, der zukünftig nicht mehr erlaubt sein soll, weil er schlicht irreführend war.
Auch Unternehmen in der Textil- und Bekleidungsbranche werden gefordert sein. Beispiele von irreführender Kommunikation gibt es hier genug. Zuletzt etwa im Frühjahr 2024, als bekannt wurde, dass in Brasilien für Baumwollplantagen unter dem Siegel der renommierten „Better Cotton Initiative“ massive Rodungen von Urwäldern durchgeführt wurden. Prominente Unternehmen der Modeindustrie wie H&M, Inditex und Louis Vuitton sind Mitglieder bei „Better Cotton“, einer Initiative, die auch namhafte Sponsoren hat (darunter Institutionen wie die zur Weltbank gehörende International Finance Corporation oder die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit.)

Die Macht der kleinen Ansätze

Ansätze für eine nachhaltige Wirtschaft gibt es bereits, doch oft sind es die kleinen Maßnahmen, die sofort und direkt umsetzbar sind. Ein Beispiel ist die Idee des „Nutzen statt Besitzen“. Viele VerbraucherInnen entscheiden sich heute dafür, Sport- oder Berufsbekleidung zu mieten, anstatt zu kaufen. In der Textilindustrie zeigt sich dies bereits in Modellen wie den Mietangeboten für Skibekleidung oder im Bereich der Berufskleidung, bei der Wäschereien das Geschäftsmodell um die Wartung und Vermietung aufbauen.

Doch die eigentliche Herausforderung besteht darin, das System zu ändern. Besonders die Fast-Fashion-Industrie ist ein Paradebeispiel dafür, wie überholte Geschäftsmodelle dem Wandel im Weg stehen. Fast Fashion lebt vom kontinuierlichen Verkauf neuer Kleidung. Ein Geschäftsmodell, das auf Kreislaufwirtschaft und Ressourcenersparnis beruht, stellt die Basis dieser Branche fundamental infrage. Hier gilt es, klare Regularien und ein Umdenken in der Wirtschaftspolitik anzustreben. Nachhaltigkeitsansprüche müssen real und überprüfbar sein, und irreführende Werbeversprechen, die falsche Vorstellungen von Umweltfreundlichkeit vermitteln, sollten verboten werden.

Die dringende Notwendigkeit neuer Geschäftsmodelle

Das Umdenken, das für die Erreichung echter Nachhaltigkeit nötig ist, betrifft weit mehr als den Konsum einzelner Produkte. Die größte Herausforderung für die Wirtschaft ist die Entwicklung zukunftsfähiger Geschäftsmodelle. Hierbei ist es unerlässlich, dass Konzepte wie Kreislaufwirtschaft und regenerative Ansätze ernsthaft gefördert werden. Um dies zu erreichen, müssen wir lernen, komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen und in einfache Sprache zu übersetzen. Gerade hier liegt die Verantwortung bei Unternehmen und Politik, die Bevölkerung aufzuklären und in die Transformation einzubeziehen.

Zu oft bleibt die Kommunikation über Klimaschutz und Nachhaltigkeit auf der Oberfläche und erfüllt lediglich eine Marketingfunktion. Damit verbauen wir uns die Chance, echte Fortschritte zu erzielen. Ein Beispiel ist das fast inflationär eingesetzte Label „klimaneutral“, das KonsumentInnen in die Irre führen kann, indem es eine komplette Klimabilanz suggeriert, wo in Wahrheit nur Kompensationen statt echter Reduktionen stattfinden. Stattdessen braucht es eine tiefgreifende Transformation der gesamten Wertschöpfungskette.

Der Weg zu einer zukunftsfähigen Wirtschaft

Der Weg zu einer echten nachhaltigen Wirtschaft ist kein leichter, aber die Zeit drängt. In vielen Bereichen gibt es bereits vielversprechende Ansätze, von der Reduzierung des Konsums bis hin zu Mietmodellen, die Besitz und Verschwendung reduzieren. Doch ein zukunftsfähiges System braucht tiefgreifende Veränderungen. Der Fokus sollte nicht nur darauf liegen, Emissionen auszugleichen, sondern unsere Produktions- und Konsumgewohnheiten radikal zu hinterfragen.

Unternehmen und Staaten müssen sich verpflichten, nicht nur klimaneutral zu handeln, sondern klimapositiv zu werden. Die „Badewanne“ des Klimawandels lässt sich nur entleeren, wenn wir weit weniger CO₂ in die Atmosphäre einleiten, als sie aufnehmen kann. Solange sich unser Konsumverhalten und die Produktionsweisen nicht grundlegend verändern, wird jede Klimaneutralitätsstrategie lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein sein.

Fazit: Klimaneutralität reicht nicht aus

Klimaneutralität allein wird uns nicht retten. Wir müssen die tieferen Ursachen des Klimawandels angehen und das Fundament unserer Wirtschaft überdenken. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen und nicht weiter die Verantwortung an andere oder an zukünftige Generationen abzuschieben. Die Politik muss klare, ambitionierte Ziele setzen und Maßnahmen umsetzen, die echten Wandel ermöglichen – auch wenn dies bedeutet, bestehende Geschäftsmodelle aufzugeben oder radikal zu verändern.

Die Klimakrise ist eine globale Herausforderung, die globale Lösungen erfordert. Anstatt auf den Wandel von außen zu warten, müssen wir selbst aktiv werden und den Weg zu einer regenerativen, zukunftsfähigen Wirtschaft einschlagen. Es ist höchste Zeit, dass wir die Klimaziele ernst nehmen und über Klimaneutralität hinausgehen.

1)         Jason Hackle, The Lancet

2)         data.footprintnetwork.org

3)         https://news.mit.edu/2008/climate-sterman-0820

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